capita

2018

verschiedene Größen, gerahmt

Edition 5 + II

 

Capita (lat. Häupter) befasst sich mit Implikationen für die Darstellung des Menschen im Kontext einer zeitgenössischen „Bilderfrage“ in der digitalen Fotografie des 21. Jahrhunderts:

Im Zentrum steht die fotografische Beschäftigung mit Interdependenzen zwischen (Re-)

Präsentation von Personen und deren Verbergen, und in dessen Folge auch mit einem Unschärfebereich zwischen Figürlichem und Abstraktem. Dies ist motiviert von einem Unbehagen über den Gebrauch fotografischer Medien zur Überwachung und Kontrolle, der Manipulierbarkeit von Fotografie sowie der „Ausbeutung“ des Abbilds anderer. Letzteres ist ein altes ethisches Dilemma der Fotografie. Dem gegenüber steht der Wunsch der Einzelnen, sich öffentlich nach eigenen Vorstellungen zu inszenieren und medial zu repräsentieren, wie es durch das Internet nun auch allen ermöglicht wird. 

In beiden Fällen steht immer auch die Manipulierbarkeit der Fotografie zur Debatte. 

 

Als Fotografin begleitet Gerlinde Miesenböck seit jeher ein Unbehagen, Menschen individuell zu fotografieren, um sie für Projekte zu „nutzen“ und zu „exponieren“ („auszustellen“/„bloßzustellen“). Gleichzeitig geht es ihr nicht um konkrete Personen oder Schicksale, sondern um übergeordnete Themen, etwa wie etwa die Frage nach dem Zuhause und dem Fremden. In Folge visualisiert sie Menschen oft indirekt: angedeutet, von hinten und die Bilder zeigen kaum Portraits. Da jedoch gleichzeitig Kleidung, Pose und Attribute seit jeher über Status und Rolle des Gezeigten informieren, übernehmen diese Faktoren eine noch betontere repräsentative Rolle. 

 

Seit einigen Jahre erforscht die Künstlerin daher in diesem Zusammenhang die Grenzen zwischen Darstellen, Andeuten und Nicht-mehr-Darstellen in Form von erweiterten Portraits:

 

Die aktuellen Serien arbeiten mit automatisierter Retusche am digitalen/digitalisierten Bild. Das wesentliche Identifikationsmerkmal „Gesicht“ und „Haut“ (z. B. an den Händen) wird von mir ausgewählt. Jedoch entscheidet „der Algorithmus“ des Computers darüber, welche Elemente aus Vordergrund/Kleidung und Hintergrund/Umgebung diese Auswahl ausfüllen. 

Die Figuren werden in Folge deformiert und wirken einmal unheimlich, einmal grotesk, andere wiederum skulptural. Das Medium Fotografie erinnert uns in seiner dokumentierenden Eigenschaft immer neu an unsere Vergänglichkeit und Sterblichkeit: Diese Aspekte werden durch die irritierenden Deformationen und geisterhaften Formen besonders hervorgehoben. 

Mit der Abgabe meiner menschlichen Kontrolle an die Maschine wird die Darstellung des Menschen mit aktueller Technik erweitert und unterwandert. Dieses Projekt greift damit die aktuelle Diskussion über den Eingriff der Algorithmen in immer mehr Bereiche unseres menschlichen Daseins auf. 

 

Lange Zeit war die Erstellung eins Portraits Vorrecht und Insignie der Macht weltlicher und geistlicher Herrscher. Diese zeigen die jeweiligen „gekrönten und ungekrönten“ Häupter in festlicher Gewandung, versehen mit Posen und Attributen der Macht. Aus dem lat. „caput“ (Haupt) hat sich in der Neuzeit die Bezeichnung „Kapital“ gebildet und verweist so auf die ökonomische Komponente von Macht. 

Aus diesem Grund geht Gerlinde Miesenböck in eine Vor-fotografische Zeit zurück und bearbeitet kunsthistorisches Material von Herrschern/Herrscherinnen aus unterschiedlichen Epochen.

Durch die Auslöschung der Gesichter wird der Fokus auf die Art der Repräsentation gelegt.  

 

Die Mächtigen werden nicht als individuelle Macht-Menschen, sondern als Gefangene höfisch-zeitkontextueller Fremdbestimmung des Eigenbildes entlarvt. So zeigen sich Konventionen, wie ein Herrscher/eine Herrscherin oder deren Nachkommen in der jeweiligen Epoche seine/ihre gesellschaftliche Position zu demonstrieren hat.

Auch heute folgen Führungsfiguren von Politik und Wirtschaft strengen Konventionen, wie die Öffentlichkeit sie zu wahrnehmen soll: oft austauschbar und uniform. 

 

Die Serie Capita wurde mit Material aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien realisiert.

 For a long time, having a portrait made was the privilege of secular and religious rulers, and a sign of their power. These show “crowned and uncrowned” heads in ceremonial garb with authoritarian poses and attributes. The term “Capital” came into use in the early modern period from the Latin “caput” (head), which indicates the economic components of power. Gerlinde Miesenböck reaches back into this time before photography and reworks material from art history showing rulers of various epochs. By eliminating the faces, she shifts the focus to the nature of the representation: the powerful are not represented as individuals; instead they are revealed as prisoners of the courtly heteronomy of the self-image in the context of their time. In this way we see the conventions of how rulers or their successors in their respective epochs had to demonstrate their position in society. Today, too, leading political or economic figures have guidelines that determine how they are to be perceived by the public: interchangeable and uniform.

This series was motivated by the artist’s unease about the use of photographic media for surveillance and control, the extent to which photography can be manipulated, and the “exploitation” of the photographs of others – the latter being a longstanding ethical dilemma of photography. This contrasts with the frequent desire of individuals to craft their own public portrayal and media representation of themselves, which is now possible thanks to the Internet and social media. In both cases the ways photography can be manipulated are always part of the debate.

 

All the current series by Gerlinde Miesenböck work with automatic retouching of digital/digitized images. The artist selects the essential identifying characteristics of “face” and “skin” (e.g. on the hands) and makes them unrecognizable, but the computer’s algorithm decides which elements from the foreground/clothing and background/surroundings will fill in this selection. This makes the figures look uncanny, in some cases grotesque, in others sculptural. Its documentary quality means that the medium of photography is a constant reminder of our impermanence and mortality. These aspects are particularly emphasized by the irritating deformed images and ghost-like forms.

 

For Gerlinde Miesenböck, her work is generally not about specific people or their lives, but about larger themes, such as the question of what is home and what is foreign.  As a result, she often visualizes people indirectly: implied, from behind. Her pictures hardly show portraits. However, since clothing, pose, and attributes have always indicated the role and status of the person, these factors take on an even more emphatic representative role. In her expanded portraits, the artist explores the borders between representing, implying, and no longer representing.

 

Material: Kunsthistorisches Museum Wien

Ausstellungsansichten: Galerie Reinthaler (Wien, Foto: georgeye), Oberösterreichischer Kunstverein (Linz), Fotoforum West (Innsbruck)